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Wandel – Bewältigung von besonderen Herausforderungen

Wir haben in den letzten Jahrzehnten viel Freiheit gewonnen. Die Lebensentwürfe sind vielfältiger und individueller geworden. Wir sind freier und unabhängiger geworden in der Wahl der gewünschten Lebens-, Familien- und Arbeitsmodelle. Es stehen uns viele Chancen und Türen offen, um ein glückliches und erfolgreiches Leben zu führen. Die Freiheit fordert aber auch ihre Tribute, beispielsweise Stabilität, Orientierung, Halt. Zudem geraten wir selber stärker unter Druck, das Beste aus unserem Leben zu machen und dafür verantwortlich zu sein, d.h. des eigenen Glückes Schmied zu sein. Es ist nicht zu bestreiten, dass die heutigen vielfältigen Herausforderungen anspruchsvoll sind und nicht alle Menschen diese ohne schwere Folgen meistern. Dies zeigt sich auch am Anstieg von Menschen, welche von Burnout, psychosozialen Erkrankungen, Sinnkrisen usw. betroffen sind.

Was ist zu tun? Es gibt sicher kein Geheimrezept dafür. Interessant ist aber, dass es Menschen gibt, die widerstandsfähiger sind und dadurch besser mit Herausforderungen und Krisen umgehen können. Diese sogenannten resilienten Menschen zeichnen sich auf der Basis einer Vielzahl von Fähigkeiten dadurch aus, dass sie mit Zuversicht, Gelassenheit, Selbstvertrauen, Mut, Menschlichkeit und viel Konsequenz und Disziplin die Herausforderungen angehen, die ihnen das Leben stellt. Sie tun dies aber nicht mit einem übertriebenen Optimismus und Glauben, dass ihnen alles gelingt, sondern in der Zuversicht, dass auch Rückschläge und Fehlentscheidungen zum Leben dazugehören, diese nicht ihren Selbstwert zerstören, sie vielmehr eine Quelle des Lernens sind, um es das nächste Mal besser oder anders zu machen.

Welchen Beitrag kann das Coaching leisten, um mit besonderen Herausforderungen und Krisen besser umgehen zu können und die Widerstandsfähigkeit eines Menschen zu stärken und zu fördern? Um dies zu beantworten möchte ich die beiden Konzepte Resilienz und Salutogense beiziehen, welche in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen haben. Bis zu den 1990er Jahren hat sich die Forschung hauptsächlich mit dem Konstrukt «Krankheit» beschäftigt. Man ist den Fragen nachgegangen, welche Ursachen und Bedingungen Krankheiten entstehen lassen und wie man sie wieder heilen kann. Gesundheit wurde v.a. als Abwesenheit von Krankheit bezeichnet. Der Ansatz der Salutogenese von Antonovsky (1997) und die Resilienzforschung (Werner 2008) haben dann den Wandel eingeleitet und die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, welche Faktoren die Gesundheit erhalten und wie man sich trotz schwieriger Lebensumstände gut entwickeln kann.

Krisen – Gefahr und Chance

Das Wort «krisis» stammt aus dem Altgriechischen und hat folgende Bedeutung: Wende, Höhepunkt, Umschlagpunkt oder Entscheidung. Eine Krise kann zugleich Gefahr und Chance darstellen. Ein treffendes Symbol ist der chinesische Begriff für Krise, der sich aus zwei Schriftzeichen zusammensetzt:

Wei und Ji

Wei  =  Gefahr

Ji  =  Chance

Krisen sind nicht gleichzusetzen mit Krankheiten. Jeder Mensch durchlebt in seinem Leben Krisen. Oft ist es die Anhäufung oder Zuspitzung belastender innerer und äusserer Ereignisse, welche die gewohnten Bewältigungsmöglichkeiten überfordern oder überschreiten. Man kann unterscheiden zwischen «normativen» oder «Lebensveränderungskrisen» (z.B. Pubertät, Verlassen des Elternhauses, Geburt eines Kindes, Empty nest Phase, Pensionierung) und «nicht-normativen» oder «traumatischen» Krisen (z.B. Todesfälle, Unfälle, Stellenverlust, schwere Krankheit, Trennung, Katastrophen). Normative Krisen beziehen sich auf lebenszyklisch erwartbare Übergänge. Nicht-normative Krisen hingegen werden durch unvorhersehbare, plötzliche Ereignisse hervorgerufen und treffen die Betroffenen entsprechen unvorbereitet.

Befindet sich eine Person in einer Krise, wird die Situation von dem oder der Betroffenen als äusserst bedrohlich empfunden. Es werden Gefühle wie Angst, Panik, Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit erlebt. Und es entsteht ein Ungleichgewicht zwischen der subjektiven Bedeutung des Problems und den Bewältigungsmöglichkeiten, die dem oder der Betroffenen zur Verfügung stehen (Kast 1989). Durch die existenzielle Not baut sich Stress und Druck auf, der eine Veränderung von Verhaltens- und Erlebensweisen erzwingt. Ausschlaggebend in einer Krise ist, dass frühere und bewährte Bewältigungsmuster und Ressourcen abgerufen werden können, aber auch neue Muster entwickelt werden müssen. Der Weg aus einer Krise ist meist mit einer Neuorientierung verbunden. Auf der einen Seite stellt die Krise eine grosse Bedrohung dar, auf der anderen Seite ist sie aber zugleich auch eine Chance zur Weiterentwicklung.

Salutogenese – was erhält gesund?

Der israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1997) untersuchte in einer 1970 publizierten Studie eine Gruppe von Frauen, die in einem Konzentrationslager gefangen gehalten worden waren. Er fand heraus, dass rund ein Drittel der Studienteilnehmerinnen sich trotz der extrem traumatisierenden Ereignissen körperlich und psychisch gesund fühlten. Aus dieser Studie ging das Ergebnis hervor, dass diese Frauen über eine zentrale Kompetenz verfügen, welche Antonovsky folgendermassen beschrieb: «…eine grundlegende Lebenseinstellung, die ausdrückt, in welchem Ausmass jemand ein alles durchdringendes, überdauerndes und zugleich dynamisches Gefühl der Zuversicht hat, dass eine innere und äussere Erfahrenswelt vorhersagbar ist und eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich die Angelegenheit so gut entwickelt, wie man vernünftigerweise erwarten kann» (1997). Er nannte dies das Kohärenzgefühl (Sense of coherence).

Beim Kohärenzgefühl geht es nicht um ein Gefühl im engeren Sinn, eher um ein Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster, ein kognitives Raster. Eine globale Orientierung, sich dem Leben und seinen Herausforderungen gewachsen zu fühlen, über die notwendigen Ressourcen zu verfügen und einen Sinn darin zu sehen, die Anforderungen zu bewältigen. Es besteht aus folgenden drei Komponenten:

Kohärenzgefühl (sense of coherence)

Verstehbarkeit (sense of comprehensibility)
Bekannte + unbekannte Stimuli, Ereignisse und Reaktionen intern + extern können als konsistentes, geordnetes und verständliches Geschehen wahrgenommen werden.
kognitiver Aspekt
Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit (sense of manageability)
Die überdauernde Zuversicht, dass geeignete Ressourcen zur Verfügung stehen, um kommende Herausforderungen zu bewältigen und dass die Dinge sich zum Guten wenden.
emotionaler Aspekt
Sinnhaftigkeit (meaningfulness)
Die Überzeugung, dass es im Leben Dinge gibt, für die es sich zu leben lohnt und die es verdienen, dass man einen persönlichen Einsatz leistet.
motivationaler Aspekt

Die drei Komponenten können unterschiedlich ausgeprägt sein. Sie sind aber nicht unabhängig, sondern stehen in einem dynamischen wechselseitigen Zusammenhang. Antonovsky sieht insbesondere den motivationalen Aspekt als den wichtigsten an. Ohne dies werden sich hohe Ausprägungen in den anderen Komponenten nicht lange halten. Ein stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl führt dazu, dass eine Person flexibel auf Herausforderungen reagieren kann. Dabei werden die für diese spezifische Situation angemessenen Ressourcen aktiviert und für die Anforderungen geeignete Verarbeitungsmuster (Copingstrategien) angeregt.

Das Kohärenzgefühl entwickelt sich im Laufe der Kindheit und Jugend und wird von den gesammelten Erfahrungen und Erlebnissen beeinflusst. Antonovsky ging davon aus, dass sich das Kohärenzgefühl in der Adoleszenz noch umfassend verändern kann und dass es im Erwachsenenalter ausgebildet und relativ stabil ist, d.h. nur noch schwer veränderbar ist. Das wird heute widerlegt. Die Neurobiologen bestätigen die Beobachtung, dass ein Mensch bis ins hohe Alter in der Lage ist, in sich selbst oder in seinem Umfeld neue Ressourcen zu generieren, die ihm helfen, Krisen zu meistern (Hüther 2012).

Resilienz – gedeihen trotz widriger Umstände

Die Wurzeln der Resilienzforschung reichen bis in die 50er Jahre zurück. Die bekannteste Studie ist diejenige der amerikanischen Entwicklungspsychologin Emmy E. Werner (2008). Sie untersuchte in einer Langzeitstudie über 40 Jahre lang die Entwicklung von 698 Kindern, welche alle 1955 auf der hawaiianischen Insel Kauai geboren wurden. Erforscht wurde dabei, wie sich biologische und psychosoziale Risiko- und Stressfaktoren, belastende Lebensereignisse sowie die Schutzfaktoren auf die Kinder auswirkten. Rund 30% dieser Kinder wuchsen unter sozial schwierigen Bedingungen auf (z.B. Armut, Krankheit, Disharmonien in der Familie, Alkoholsucht, Scheidung der Eltern). Erstaunlicherweise zeigten ein Drittel dieser Kinder bis ins Erwachsenenalter während des gesamten Untersuchungszeitraums keinerlei Verhaltensauffälligkeiten. Sie entwickelten sich zu kompetenten, selbstbewussten und fürsorglichen Erwachsenen.

«Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für die Entwicklung zu nutzen. Mit dem Konzept der Resilienz verwandt sind Konzepte wie Salutogense, Coping und Autopoiese. Alle diese Konzepte fügen der Orientierung an Defiziten eine alternative Sichtweise bei.» (Welter-Enderlin, R.; Hildenbrand, B. 2008, S. 13). Auch bei der Resilienz handelt es sich nicht um eine Eigenschaft, sondern um eine spezifische Weise von Handlung und Orientierung. Sie ist kein aussergewöhnlicher Persönlichkeitsfaktor besonders optimistischer Menschen. Vielmehr entsteht sie in einem Zusammenspiel zwischen der Umgebung, der Vorerfahrung und der Art und Weise, wie Krisen und Belastungen verarbeitet werden. Die Paradoxie des Resilienzkonzeptes besteht darin, dass je schwieriger die Bedingungen sind, desto grösser ist die Chance dafür, dass schöpferisch gehandelt wird. Eine Krise kann dazu führen, dass ein Mensch ungeahntes Wachstumspotenzial entwickelt.

Dr. Karen Revich und Dr. Andrew Shatté (2002), zwei amerikanische Forscher, haben in ihrem Buch zum ersten Mal die Resilienzfaktoren dargestellt. Sie basieren sowohl auf den Erkenntnissen ihrer eigenen langjährigen Forschungstätigkeit an der University of Pennsylvania als auch auf der Arbeit vieler weiterer Forschungsgruppen sowie auf der über zehn Jahre im Rahmen von Trainings gesammelten Erfahrungen.

Bei der Übersetzung der Resilienzfaktoren ins Deutsche sind sich nicht ganz alle AutorInnenen einig, in der Bedeutung decken sie sich aber mehrheitlich (Wellensiek 2011, Rampe 2010, Siegrist & Luitjiens 2013, Mourlane 2013).

Die 7 Säulen der Resilienz (Resilienzfaktoren)

Optimismus (Realistischer Optimismus)
Haltung, dass sich die Dinge zum Guten wenden
Akzeptanz (Emotionssteuerung)
Negative Emotionen wahrnehmen, um dann die richtigen Massnahmen zu ergreifen, um sich wieder besser zu fühlen
Lösungsorientierung (Impulskontrolle)
In Lösungen denken und Stress abbauen bedeutet, die Kontrolle zurück zu erlangen
Aktiv gestalten (Selbstwirksamkeitsüberzeugung)
Überzeugung, das Heft des Lebens selbst in der Hand zu halten
Verantwortung übernehmen (Kausalanalyse)
Denken, das hilft, die Gründe für Rückschläge und die damit einhergehenden emotional negativen Zustände richtig zu identifizieren, um dann entsprechend die richtigen Handlungen folgen zu lassen
Netzwerkorientierung (Empathie)
Tragfähige private und berufliche Kontakte sind das Netz, das in Krisen auffängt / Perspektive wechseln und Situation als Herausforderungen zu sehen
Zukunftsplanung (Zielorientierung)
Ziele und Visionen, Planung und Vorbereitung machen uns zum aktiven Gestalter unseres Lebens

Stärken der Widerstandsressourcen durch Coaching

Die Konzepte Salutogense und Resilienz, welche seit den 90er Jahren vermehrt an Bedeutung gewonnen haben, fokussieren sich auf diejenigen Fähigkeiten und Orientierungs- sowie Handlungsmuster, welche Menschen helfen, Krisen gut zu meistern. Diesen resilienten Menschen gemeinsam sind Fähigkeiten und Ressourcen, die sie unterstützen, einen konstruktiven Umgang mit belastenden Situationen zu finden und geeignete (alte sowie neue) Bewältigungsmuster zu entwickeln. Resilienz entwickelt sich insbesondere durch Erfahrungen, d.h. je schwieriger eine Bedingung ist, desto grösser sind die Möglichkeiten zum Wachstum. Deshalb sind Krisen immer auch Chancen, um Potenziale zu entwickeln.

Das systemische Coaching kann einen wesentlichen Beitrag leisten, wenn es darum geht, Menschen in Krisen und anspruchsvollen Herausforderungen zu begleiten. Zum einen kann durch das Coaching Stress reduziert und dies als temporäre Widerstandsressource eingesetzt werden. Auf der anderen Seite kann Resilienz im Coaching gezielt gefördert und gestärkt werden. Mit geeigneten Methoden können beispielsweise Perspektiven gewechselt, eine Neubewertung des Problems angestossen, Potenzial und Ressourcen bewusst gemacht und aktiviert und Verhaltensänderungen angestossen werden, die uns helfen, gestärkt aus der Krise hervorzugehen und uns neu zu orientierten. Coaching kann die Kompetenz in den Bewältigungsprozessen deutlich erhöhen und auf dem Weg der persönlichen Sinnfindung und Prioritätensetzung einen wesentlichen gesundheitsförderlichen Beitrag leisten.